Warum Hunde anspringen
Warum Hunde anspringen – und warum „Sitz“ keine Lösung ist
Hunde, die ihre Menschen oder Fremde anspringen, werden häufig als unhöflich, unerzogen oder aufdringlich wahrgenommen. Doch hinter diesem Verhalten steckt ein zutiefst soziales und biologisch verankertes Bedürfnis: der Wunsch nach Nähe und sozialer Verbindung (Gansloßer & Reiche, 2011).
1. Die Wurzeln des Springens
Springen ist Teil des sogenannten et-epimeletischen Verhaltens, das bei sozialen Tieren wie Hunden dazu dient, Fürsorge und Aufmerksamkeit zu erlangen (Bradshaw, 2011). Schon Welpen zeigen dieses Verhalten, indem sie sich an die Mutter und ihre Geschwister wenden, um Nähe, Nahrung und Schutz zu sichern. Das Springen, Winseln, Lecken oder Anstupsen sind Überlebensstrategien, die dem Tier Sicherheit und Kontakt bieten.
Auch erwachsene Hunde behalten Aspekte dieses Verhaltens bei, vor allem dann, wenn sie ein Bedürfnis ausdrücken wollen – sei es nach Nähe, Futter oder Rückversicherung in stressigen Situationen (Feddersen-Petersen, 2004).
2. Missverständnisse und Fehlinterpretationen
Menschen neigen dazu, das Anspringen als „Dominanz“ oder „Aufmerksamkeitsheischerei“ zu deuten, was jedoch wissenschaftlich nicht haltbar ist (Yin, 2009). Vielmehr spiegelt das Verhalten oft eine Mischung aus Bedürfnisbefriedigung, sozialer Motivation und manchmal auch Unsicherheit wider.
Ein häufig empfohlener Ansatz ist, den Hund ins „Sitz“ zu schicken, um das Anspringen zu unterbinden. Doch hier entsteht ein emotionaler Konflikt: Hunde, die gelernt haben, dass „Sitz“ mit Belohnung verbunden ist, erwarten eine positive Rückmeldung. Wenn diese ausbleibt (weil man das Springen nicht „belohnen“ möchte), führt das zu Frust und Stress – ein Mechanismus, der als erlernte Frustration bekannt ist (Mills & Estelles, 2005).
3. Warum Ignorieren keine Lösung ist
Ein weiteres oft propagiertes Mittel ist das Ignorieren des Springens. Dabei wird übersehen, dass sozialer Schmerz – ausgelöst durch den Ausschluss von sozialer Interaktion – für Hunde mindestens so belastend ist wie physischer Schmerz (Panksepp, 2005). Hunde nehmen dann sogar negative Aufmerksamkeit (z.B. Schimpfen oder Wegstoßen) in Kauf, um die soziale Verbindung wiederherzustellen.
4. Ein bedürfnisorientierter Ansatz
Ein wirksamer Ansatz berücksichtigt sowohl die Emotionen des Hundes als auch die situativen Bedingungen (Range & Virányi, 2011). Dazu gehört:
-
Frühzeitiges Erkennen und Umlenken: Beobachte die Körpersprache des Hundes, erkenne das Bedürfnis und biete Alternativen, bevor das Springen erfolgt. Zum Beispiel durch klare Handzeichen, Körperwendung oder eine gezielte Aufgabe (z.B. Leckerchensuche).
-
Rituale und Nähe ermöglichen: Nähe darf ruhig und strukturiert gestaltet sein – etwa durch ein kurzes Streicheln, einen verbalen Marker oder ein spezifisches Begrüßungsritual.
-
Stressreduktion fördern: Hunde benötigen Mechanismen zur Selbstregulation, z.B. durch Kauen, Schlecken oder Körperkontakt. Dies reduziert Erregung und unterstützt die Emotionsregulation (Beerda et al., 1999).
-
Abstand bei Begegnungen: Besonders bei fremden Menschen ist es entscheidend, den Hund nicht in unangenehme Situationen zu drängen. Abstandhalten, freundliche Kommunikation mit anderen Menschen („Bitte nicht begrüßen“) und Alternativverhalten (z.B. Schnüffeln) sind hier zielführend (Mariti et al., 2017).
5. Fazit: Beziehung statt Kontrolle
Das Anspringen ist kein Problem der „Unerzogenheit“, sondern Ausdruck eines sozialen Bedürfnisses. Ein Hund, der springt, kommuniziert: „Ich brauche Verbindung.“ Statt auf Gehorsamsübungen wie „Sitz“ zu setzen, sollte der Fokus auf der Schaffung sicherer, vorhersagbarer Interaktionen liegen. Nur so entsteht eine vertrauensvolle Beziehung, die langfristig auch unerwünschtes Verhalten reduziert.
Hab einen guten Start in die Woche,
Kirsten 🙂
Quellen:
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Beerda, B., Schilder, M. B., Van Hooff, J. A., De Vries, H. W., & Mol, J. A. (1999). Chronic stress in dogs subjected to social and spatial restriction. Physiology & Behavior, 66(2), 233-242.
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Bradshaw, J. (2011). Hunde verstehen: Die Sprache der Hunde und wie wir sie richtig deuten. München: Kynos.
-
Feddersen-Petersen, D. (2004). Hundepsychologie: Sozialverhalten und Wesen, Emotionen und Individualität.Stuttgart: Franckh-Kosmos.
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Gansloßer, U., & Reiche, D. (2011). Hundeverhalten: Ausdrucksverhalten, Kommunikation und Bindung. Stuttgart: Franckh-Kosmos.
-
Mariti, C., Ricci, E., Carlone, B., Moore, J. L., Sighieri, C., & Gazzano, A. (2017). Dog behavior and welfare: Effects of owner experience on dog welfare and behavior. Journal of Veterinary Behavior, 20, 55–60.
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Mills, D. S., & Estelles, M. G. (2005). Learning and behavior problems in companion animals. In: Horwitz, D., & Mills, D. S. (Hrsg.), BSAVA Manual of Canine and Feline Behavioural Medicine (S. 29-44). Gloucester: BSAVA.
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Panksepp, J. (2005). Affective consciousness: Core emotional feelings in animals and humans. Consciousness and Cognition, 14(1), 30–80.
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Range, F., & Virányi, Z. (2011). Social learning from humans or conspecifics: differences and similarities between wolves and dogs. Frontiers in Psychology, 2, 1–10.
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Yin, S. (2009). How to Behave So Your Dog Behaves. Davis, CA: CattleDog Publishing.
Warum Hunde anspringen
Warum Hunde anspringen – und warum „Sitz“ keine Lösung ist
Hunde, die ihre Menschen oder Fremde anspringen, werden häufig als unhöflich, unerzogen oder aufdringlich wahrgenommen. Doch hinter diesem Verhalten steckt ein zutiefst soziales und biologisch verankertes Bedürfnis: der Wunsch nach Nähe und sozialer Verbindung (Gansloßer & Reiche, 2011).
1. Die Wurzeln des Springens
Springen ist Teil des sogenannten et-epimeletischen Verhaltens, das bei sozialen Tieren wie Hunden dazu dient, Fürsorge und Aufmerksamkeit zu erlangen (Bradshaw, 2011). Schon Welpen zeigen dieses Verhalten, indem sie sich an die Mutter und ihre Geschwister wenden, um Nähe, Nahrung und Schutz zu sichern. Das Springen, Winseln, Lecken oder Anstupsen sind Überlebensstrategien, die dem Tier Sicherheit und Kontakt bieten.
Auch erwachsene Hunde behalten Aspekte dieses Verhaltens bei, vor allem dann, wenn sie ein Bedürfnis ausdrücken wollen – sei es nach Nähe, Futter oder Rückversicherung in stressigen Situationen (Feddersen-Petersen, 2004).
2. Missverständnisse und Fehlinterpretationen
Menschen neigen dazu, das Anspringen als „Dominanz“ oder „Aufmerksamkeitsheischerei“ zu deuten, was jedoch wissenschaftlich nicht haltbar ist (Yin, 2009). Vielmehr spiegelt das Verhalten oft eine Mischung aus Bedürfnisbefriedigung, sozialer Motivation und manchmal auch Unsicherheit wider.
Ein häufig empfohlener Ansatz ist, den Hund ins „Sitz“ zu schicken, um das Anspringen zu unterbinden. Doch hier entsteht ein emotionaler Konflikt: Hunde, die gelernt haben, dass „Sitz“ mit Belohnung verbunden ist, erwarten eine positive Rückmeldung. Wenn diese ausbleibt (weil man das Springen nicht „belohnen“ möchte), führt das zu Frust und Stress – ein Mechanismus, der als erlernte Frustration bekannt ist (Mills & Estelles, 2005).
3. Warum Ignorieren keine Lösung ist
Ein weiteres oft propagiertes Mittel ist das Ignorieren des Springens. Dabei wird übersehen, dass sozialer Schmerz – ausgelöst durch den Ausschluss von sozialer Interaktion – für Hunde mindestens so belastend ist wie physischer Schmerz (Panksepp, 2005). Hunde nehmen dann sogar negative Aufmerksamkeit (z.B. Schimpfen oder Wegstoßen) in Kauf, um die soziale Verbindung wiederherzustellen.
4. Ein bedürfnisorientierter Ansatz
Ein wirksamer Ansatz berücksichtigt sowohl die Emotionen des Hundes als auch die situativen Bedingungen (Range & Virányi, 2011). Dazu gehört:
-
Frühzeitiges Erkennen und Umlenken: Beobachte die Körpersprache des Hundes, erkenne das Bedürfnis und biete Alternativen, bevor das Springen erfolgt. Zum Beispiel durch klare Handzeichen, Körperwendung oder eine gezielte Aufgabe (z.B. Leckerchensuche).
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Rituale und Nähe ermöglichen: Nähe darf ruhig und strukturiert gestaltet sein – etwa durch ein kurzes Streicheln, einen verbalen Marker oder ein spezifisches Begrüßungsritual.
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Stressreduktion fördern: Hunde benötigen Mechanismen zur Selbstregulation, z.B. durch Kauen, Schlecken oder Körperkontakt. Dies reduziert Erregung und unterstützt die Emotionsregulation (Beerda et al., 1999).
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Abstand bei Begegnungen: Besonders bei fremden Menschen ist es entscheidend, den Hund nicht in unangenehme Situationen zu drängen. Abstandhalten, freundliche Kommunikation mit anderen Menschen („Bitte nicht begrüßen“) und Alternativverhalten (z.B. Schnüffeln) sind hier zielführend (Mariti et al., 2017).
5. Fazit: Beziehung statt Kontrolle
Das Anspringen ist kein Problem der „Unerzogenheit“, sondern Ausdruck eines sozialen Bedürfnisses. Ein Hund, der springt, kommuniziert: „Ich brauche Verbindung.“ Statt auf Gehorsamsübungen wie „Sitz“ zu setzen, sollte der Fokus auf der Schaffung sicherer, vorhersagbarer Interaktionen liegen. Nur so entsteht eine vertrauensvolle Beziehung, die langfristig auch unerwünschtes Verhalten reduziert.
Hab einen guten Start in die Woche,
Kirsten 🙂
Quellen:
-
Beerda, B., Schilder, M. B., Van Hooff, J. A., De Vries, H. W., & Mol, J. A. (1999). Chronic stress in dogs subjected to social and spatial restriction. Physiology & Behavior, 66(2), 233-242.
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Bradshaw, J. (2011). Hunde verstehen: Die Sprache der Hunde und wie wir sie richtig deuten. München: Kynos.
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Feddersen-Petersen, D. (2004). Hundepsychologie: Sozialverhalten und Wesen, Emotionen und Individualität.Stuttgart: Franckh-Kosmos.
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Gansloßer, U., & Reiche, D. (2011). Hundeverhalten: Ausdrucksverhalten, Kommunikation und Bindung. Stuttgart: Franckh-Kosmos.
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Mariti, C., Ricci, E., Carlone, B., Moore, J. L., Sighieri, C., & Gazzano, A. (2017). Dog behavior and welfare: Effects of owner experience on dog welfare and behavior. Journal of Veterinary Behavior, 20, 55–60.
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Mills, D. S., & Estelles, M. G. (2005). Learning and behavior problems in companion animals. In: Horwitz, D., & Mills, D. S. (Hrsg.), BSAVA Manual of Canine and Feline Behavioural Medicine (S. 29-44). Gloucester: BSAVA.
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Panksepp, J. (2005). Affective consciousness: Core emotional feelings in animals and humans. Consciousness and Cognition, 14(1), 30–80.
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Range, F., & Virányi, Z. (2011). Social learning from humans or conspecifics: differences and similarities between wolves and dogs. Frontiers in Psychology, 2, 1–10.
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Yin, S. (2009). How to Behave So Your Dog Behaves. Davis, CA: CattleDog Publishing.